Britischer Rennsport will Verletzungsrisiken von Jockeys verringern
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TurfTimes:
Verletzungen infolge von Stürzen gehören zum Berufsrisiko eines Jockeys, sie sind die Kehrseite des Traumberufs im Turf. Kleinere Blessuren gehören zum Alltag, doch manchmal bleibt es nicht bei Verstauchungen und Blutergüssen. Kaum ein Jockey kommt in seiner Karriere ohne Frakturen aus, doch selbst diese Art Verletzung kann man noch als halbwegs glimpflichen Ausgang eines Sturzes bewerten, vergleicht man es mit den Konsequenzen von Rückenmarks- und Kopfverletzungen. Christian Zschache, Neil Grant, Peter Gehm und Peter Heugl sindnur einige prominente Beispiele der deutschen Turf-Geschichte der letzten 20 Jahre, wie ein Sturz eine erfolgreiche Jockey-Karriere von einem Moment zum anderen beenden kann und eine Rückenmarksverletzung einen Hochleistungssportler zum querschnittsgelähmten Sport-Invaliden macht. Noch schlimmer erging es der Nachwuchsreiterin Sandra Eichenhofer, deren Tod nach einem Sturz auf der Rennbahn in Sao Paulo vor drei Jahren die deutsche Turf-Szene erschütterte. Auch international kommt es immer wieder zu schwersten Verletzungen und gelegentlichen Todesfällen von Jockeys nach Stürzen in Flach- und Hindernisrennen.
Die Dachorganisation des britischen Turfs, die British Horseracing Authority (BHA), hat sich dem Thema in diesem Jahr verstärkt angenommen. Zwar kann auch die BHA keine Stürze verhindern, doch die gesundheitlichen Folgen von Stürzen können durch präventive Vorkehrungen abgemildert werden. Sturzhelme und Schutzwesten gehören zwar schon lange zur vorgeschriebenen Jockeyausstattung, doch durch neu initiierte Kooperationen der BHA mit Universitätsinstituten will die BHA feststellen, wie sich die Effektivität dieser und anderer Schutzvorkehrungen verbessern lässt. Dabei spielt das digitale BHA-Archiv der Rennfilme eine entscheidende Rolle, liefert es doch den universitären Partnern die Grundlage für eine im Vergleich zur Vergangenheit weit detailliertere Auswertung der einzelnen Sturzereignisse.
Die Arbeitsgruppe von Professor Michael Gilchrist, einem Ingenieur am University College Dublin, untersucht in einem von der EU geförderten Projekt die Verformung von Jockey-Sturzhelmen nach Stürzen mit dem Ziel, das Design der Sturzhelme zu optimieren. Durch die Kooperation mit der BHA und dem Zugriff auf das digitale Rennfilmarchiv haben die irischen Forscher die Möglichkeit, genaue Daten zum Sturzereignis zu erhalten, die eine perfekte Rekonstruktion des Sturzes ermöglichen. Zusätzlich werden nach den Unfällen auf den Rennbahnen die – mehr oder weniger – ramponierten Sturzhelme nach Dublin geschickt, um die exakten Schäden am Sturzhelm beurteilen zu können. Bislang wurde meist nur auf der Basis von Sturzsimulationen am Design eines perfekten Sturzhelms gearbeitet, die irische Arbeitsgruppe kann erstmals mit realen Daten Analysen durchführen und hofft durch diese Praxisnähe, den Schwachstellen besser auf die Spur zu kommen. Mit ersten Ergebnissen rechnet man in Dublin im nächsten Jahr.
Ein weiteres Forschungsprojekt zum Thema Verletzungsprävention führt die BHA in Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Professor Keith Stokes, einem Sportmediziner an der südenglischen Universität Bath, durch. Hierbei stehen die Rückenmarksverletzungen im Fokus. Professor Stokes hat in der Vergangenheit bereits in Zusammenarbeit mit der britischen Rugby-Liga Verletzungsrisiken in Rugby-Spielen intensiv analysiert. Beim neuen Projekt mit der BHA geht es ihm darum, die Faktoren zu identifizieren, die aus einem „normalen Sturz“ einen Sturz mit Rückenmarksverletzung und damit katastrophalen Folgen für den betroffenen Jockey machen. Aus der Analyse der Rennfilme des digitalen BHA-Archivs erhofft er sich insbesondere Aufschlüsse, welchen Einfluss der Jockey auf die Folgen des Sturzes hat, um praktische Empfehlungen geben zu können, wie ein Jockey sich im Falle eines Sturzes verhalten sollte, um das Risiko für Rückenmarksverletzungen zu minimieren.
In eine ähnliche Richtung geht auch die Kooperation der BHA mit der Universität Sydney. Die BHA stellt einer Arbeitsgruppe der dortigen gesundheitswissenschaftlichen Fakultät auch hier ihr digitales Rennfilmarchiv als Grundlage für ein Forschungsprojekt zur Verfügung. Das Projekt wird von Lindsay Nylund betrieben, einem ehemaligen Olypioniken, der 1980 als Turner an der Sommerolympiade in seiner Heimat Australien teilgenommen hat. Nylund hat nach seiner aktiven Turnerkarriere (er war der erste australische Turner, der bei internationalen Wettkämpfen eine (Silber-)Medaille erringen konnte) in vielfältigen Funktionen als Trainer im Turnsport gearbeitet und dabei zunehmend das Thema Verletzungsprävention ins Auge gefasst. Anfänglich war er dabei auf Verletzungen von Turnern fokussiert, erweiterte sein Interesse später jedoch auch auf den Reitsport. Vor zwei Jahren veröffentlichte er ein Buch, das sich unter dem Titel „Surving the Unexpected“ an Reiter wendet und in dem er ein Trainingsprogramm für das optimale Verhalten bei Stürzen beschreibt.
An der Universität Sydney will Nylund jetzt im schon fortgeschrittenen Alter von 60 Jahren seinen Doktor machen, in dem die Effektivität seiner Empfehlungen wissenschaftlich analysiert. Dazu will er u.a. die britischen Rennfilme nutzen, um herauszufinden, ob Jockeys, die sich bei Stürzen so verhalten, wie er es empfiehlt, ihre Stürze mit geringgradigeren Verletzungen überleben. Erste quantitative Analysen, die noch nicht auf der Basis der britischen Rennsportdaten erfolgten, zur Effektivität von luftgefüllten Schutzwesten („Air Jackets“) bei Stürzen hat er bereits durchgeführt und dabei eindeutige Resultate erzielt, die derartigen Schutzwesten eine bessere Effektivität der Verletzungsprophylaxe bei Reitunfällen attestierten.
In der BHA hat man mit diesen Projekten den Kampf gegen Verletzungen im Rennsport intensiviert. Bereits im Sommer wurden auch die Regularien für Jockeys zum Tragen von Schutzwesten überarbeitet. Damit folgte man den Iren, die schon in 2017 etwas schwerere und wirksamere Schutzwesten verpflichtend vorgeschrieben hatten, um Jockeys besser zu schützen. Die statistischen Daten zur Anzahl von Stürzen im britischen Rennsport zeigen zwar eine rückläufige Tendenz, doch nimmt der Schweregrad der gesundheitlichen Folgen der Stürze nicht ab, sondern sogar eher zu. Gab es im Zeitraum 1992 bis 2000 in Flachrennen auf Turf in 0.42% aller Ritte einen Sturz zu beklagen, so sank dieser Prozentsatz im Zeitraum 2015 bis 2017 auf 0.11% (in britischen Hindernisrennen war die gleiche Tendenz auf höherem Niveau zu beobachten, hier gab es einen Rückgang von 6.8% auf 4.3%). In rund 40% der Stürze des frühen Zeitraums folgte aus dem Sturz in einem Flachrennen auf Turf eine Verletzung des Jockeys. Dieser Verletzungsanteil stieg im aktuellen Zeitraum auf mehr als zwei Drittel (67.2%). Insbesondere die Diagnose eines Schädel-Hirn-Traumes (in der milden Grad I Variante ist dies die oft unterschätzte Gehirnerschütterung) infolge eines Sturzes stieg von 3% bei allen Stürzen in Flachrennen zwischen 1992 und 2000 auf 16% im aktuellen Drei-Jahres-Zeitraum.
Bei der Interpretation dieses krassen Anstiegs ist allerdings zu berücksichtigen, dass heutzutage die Diagnostik eines Schädel-Hirn-Traumas nach einem Sturz intensiviert worden ist, so dass vermutlich im 20 Jahre zurückliegenden Zeitraum bei etlichen Jockeys der Brummschädel nach einem Sturz ärztlicherseits nicht als Schädel-Hirn-Trauma festgestellt wurde und daher nicht in der Statistik auftaucht. Verletzungen des Oberkörpers werden heutzutage bei 12.7% aller in einem Flachrennen gestürzten Jockeys diagnostiziert, hierzu rechnen auch die schwerwiegenden Rückenmarksverletzungen, die Gott sei Dank nur einen kleinen Teil dieser Verletzungsgruppe ausmachen. Grundlage für diese Zahlen der BHA war die Auswertung von mehr als 920.000 Ritten, davon rd. 270.000 Ritte im aktuellen Zeitraum und mehr als 650.000 Ritte im Vergleichszeitraum am Ende des letzten Jahrhunderts. Durch diese breite Datenbasis können Aussagen zu Sturzverletzungen im britischen Rennsport auf verlässlichem Fundament getroffen werden.
Im Sinne der Gesundheit von Jockeys, die bei der Ausübung ihres Berufs täglich ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko eingehen, ist zu hoffen, dass die von der BHA initiierten Projekte schnell praxistaugliche Resultate erbringen werden. Der deutsche Rennsport hat unseres Wissens nach derartige Analysen nicht in Angriff genommen und das Thema der Verletzungsprophylaxe von Jockeys nicht mit hoher Priorität auf seiner Agenda. Von den Resultaten der BHA-Aktivitäten kann jedoch auch er profitieren, wenn er die daraus entstehenden Empfehlungen, z.B. für das Design von Jockey-Sturzhelmen und die Durchführung von Sturztrainingseinheiten, auch in Deutschland übernimmt. Für die zu Beginn erwähnten Christian Zschache, Neil Grant, Peter Gehm und Peter Heugl kommen diese Verbesserungen zu spät, doch zukünftige Jockey-Generationen werden es danken.