Der Rennsport, hat ein englischer Journalist einmal gesagt, ist die schönste Nebensache der Welt. Wenn es so einfach wäre. Für viele innerhalb der „Industrie“ ist der Rennsport Beruf, Berufung, Karriere. Leben. Der Rennsport gibt, der Rennsport nimmt. Manchmal ein ganzes Leben. Cheltenham ist Rennsport, ein Fokus. Vier Tage, die den Sport definieren; Ergebnisse, die ein Rennsportleben beeinflussen. Vieles ändert sich durch einen Sieg auf dem heiligen Rasen auf der Rennbahn im Prestbury Park. Er verändert Karrieren, Leben gar. Doch kann der Sport auch heilen?
An einem glorreichen Nachmittag am ersten Tag des 2023 Cheltenham Festival gab sich der Rennsport von seiner besten Seite. Er gab uns Größe, Star-Pferde; eine Stunde reichte, um Erinnerungen zu schaffen, die ein Leben lang bleiben werden.
Constitution Hill war für viele einer der „Banker“ des Tages, der Woche gar. Ein sicheres „Ding“. Als 1.37 - 1 Favorit nicht unbedingt ein gutes Ding. Alt-Meister Nicky Henderson hat in der Champion Hurdle (Gr.I; ca. 3200m), dem Hauptrennen des ersten Tages, einen ganz besonders guten Schnitt. Achtmal hatte das Rennen bis dahin seinen Weg in seinen Seven Barrows-Stall gefunden, erstmals im Jahr 1985. Mit dem Blue Bresil-Sohn Constitution Hill, in den weiß-schwarze Kappe-Farben von Michael Buckley unterwegs, hat Henderson erneut ein ganz besonderes Pferd an der Hand. Kein Hingucker, aber „handsome is as handsome does“, und hier steckt ernsthaftes Talent in schlicht brauner Jacke.
Mit seinem Sieg in der Supreme Novice Hurdle, der Zwei-Meilen-Prüfung für Nachwuchs-Hürdenpferde, hatte Constitution Hill an dieser Stelle im letzten Jahr nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht; und die Umschreibung untertreibt noch. Dieses Versprechen löste der sechsjährige Wallach in diesem Jahr ein: mit neun Längen canterte er das Feld, zugegeben mit nur einem ernsthaften Gegner, geradezu nachlässig ab. Mit der neunten Champion Hurdle auf der Haben-Seite, seinem insgesamt 73. Erfolg beim Festival, gab sich Henderson nach dem Rennen gewohnt lyrisch: "Er ist einfach ein außergewöhnliches Pferd. (…) Du kannst mit ihm alles machen kann einfach alles, Jagdsprünge, drei Meilen. Er hatte nun sechs Rennen und kam nicht einmal vom Gebiß.“ Vergleiche mit den ganzen Großen der Spähre sind -vor allem in der englischen Fachpresse- unvermeidlich; auch, da man sich gegen die irische Übermacht positionieren muss. Unbestreitbar beeindruckend, sind solche Vergleiche verfrüht; in sechs Rennen ungeschlagen zu sein, ist Klasse, aber noch keine Unsterblichkeit. Vergleiche auf höchstem Niveau.
In einer anderen Straße wohnt daher die Stute, die das nächste Rennen der Karte gewann. In Handicap-Pfunden gerechnet mag etwas fehlen, doch Honeysuckle hat andere Schwellen überschritten. Beweisen muss sie schon lange nichts mehr. An diesem Nachmittag war ihr Sieg, im letzen Rennen ihrer Karriere, in der bisher stärksten Austragung der Mares´ Hurdle (Gr.I, ca. 4000m) mehr als nur ein erster Platz. Er war, wenn nicht Heilung, dann Trost, ein goldener Moment im Leben von Menschen, die unschätzbares verloren haben und dem Schicksal die Stirn bieten.
Es ist leicht, Rennen als Nebensache zu bezeichnen, doch für Henry de Bromhead und seine Familie, Jockey Rachael Blackmore und alle, die in Knockeen arbeiten, sind sie Leben; die Pferde der Grund, morgens aufzustehen. Eine Zeichnung von Jack de Bromhead, Henrys Sohn, der im September letzen Jahres so jung und so tragisch nach einem Sturz in einem Pony-Rennen verstarb, ist der Mittelpunkt der Webseite des Stalls. Ein Verlust, unermesslich. „Es war ein hartes Jahr …es ist immer noch hart“ so de Bromhead nach dem Sieg, „doch wir sind auch in der glücklichen Lage, so viel Unterstützung zu erhalten. Viele in unserer Lage haben dieses Glück nicht.“ Das Wort Glück unter diesen Umständen in den Mund zu nehmen ist nur Teil der Stärke, die das gesamte Team seit Monaten demonstriert. Die Intensität, mit der Honeysuckles Sieg im gesamten Team nachhallte, machte deutlich, das hier Wichtiges passiert war. „Es ist ein märchenhaftes Ende, wie es normalerweise nicht passiert.“ Viele hatten im Vorfeld des Rennens ihren „Niedergang“ beschworen; nach 16 Siegen und zwei Niederlagen in Folge, bei 18 Starts. Man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Honeysuckle kam, sie kämpfte, sie siegte. Nach dem Rennen sprach Blackmore, noch im Sattel und mit tränenbelegter Stimme, von der „Erleichterung“, sie sagte aber auch:“ Eine ganz besondere Person fehlt heute, und er hat ganz sicher von oben zugeguckt.“ Eine ganz besondere Stute gab auf dem Rasen alles; und der Empfang, der Jubel, die Zuneigung, der gute Wille, den die zehntausenden Fans, die den Siegerzirkel umlagerten, beiden bereiteten, war einer dieser ganz besonderen Momente. In Cheltenham, und im Leben.