Drucken Redaktion Startseite

Galileo Gold und das Derby - Soll er oder soll er nicht?

Galileo Gold nach dem Sieg in den 2000 Guineas unter Frankie Dettori. www.galoppfoto.de. - Jim Clark

Autor: 

Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 417 vom Donnerstag, 12.05.2016

Die 236jährige Geschichte des englischen Derbys weist etliche Jahre auf, in denen ein im Vorfeld hoch eingeschätzter Vertreter des Derby-Jahrgangs aus unterschiedlichsten Gründen sich nicht an der Startstelle auf den Epsom Downs einfand. Auch in diesem Jahr könnte dies nach aktuellem Stand der Fall sein. Trainer Hugo Palmer gab vor einer Woche bekannt, dass der 2000 Guineas Sieger Galileo Gold ungeachtet seiner überzeugenden Vorstellung in Newmarket nicht im Derby an den Start gehen wird. In dieser Woche wurde diese klare Aussage von Al Shaqab Racing-Manager Harry Herbert allerdings wieder relativiert und ein Derby-Start als „nicht ausgeschlossen“ bezeichnet. Als Begründung für das mögliche Auslassen des Derbys wird auf das Resultat eines genetischen Tests verwiesen, eine Begründung, die es in der Derby-Geschichte bislang noch nicht gab, die in der Zukunft allerdings häufiger zu hören sein wird, wenn sich die Methoden der genetischen Testung von Vollblütern verbreiten sollten. Wir beleuchten daher in diesem Beitrag die Grundlage für eine Entscheidung, Galileo Gold nicht im Derby starten zu lassen. Dazu haben wir uns fachkundige Unterstützung von mit den Methoden der statistischen Genetik vertrauten Wissenschaftlern gesucht, die uns eine Einführung in die komplexe Materie gaben und die fachliche Korrektheit unserer Darstellung überprüften.

Jede rationale Zuchtentscheidung ist bislang der Versuch des erfahrenen Züchters nach genauem Studium des Pedigrees, die optimale Paarung von Deckhengst und Zuchtstute zu bestimmen, um eine optimale genetische Ausgangslage für den Nachkommen zu erzielen. Ob die Entscheidung erfolgreich war und das Zuchtziel erreicht wurde, lässt sich erst Jahre später beurteilen. Gerade bei jungen Deckhengsten und Mutterstuten ohne eigene Rennleistungen wie im Fall Galileo Gold, der als Erstling einer nicht gelaufenen Galileo-Tochter aus dem zweiten Jahrgang des Deckhengstes Paco Boy stammt, ist die Datenlage prekär. Es gibt schlichtweg keine Erfahrungsbasis für eine Beurteilung, ob aus einer solchen Paarung Nachkommen mit Stehvermögen für die Derby-Distanz entstehen können oder nicht. In der Vergangenheit hat man sich daher der Eindrücke aus dem Training, der Aussagen von erfahrenen Jockeys über ihr Gefühl im Rennen oder des Resultats eines Vorbereitungsrennens auf der Derby-Route bedient, um die Frage nach dem Stehvermögen zu beantworten. Trainer Hugo Palmer und Besitzer Scheich Joaan Al Thani sind bei Galileo Gold einen anderen Weg gegangen: Sie haben dem Hengst 5 Milliliter Blut abgenommen und die irische Firma Equinome mit einem DNA-Test auf der Basis der Blutprobe (Listenpreis: 190 Euro plus MwSt) beauftragt. Das Resultat lautete nach Angaben von Hugo Palmer „CC“ und damit bestünde nur eine Wahrscheinlichkeit unterhalb von 1%, dass Galileo Gold auf der Derby-Distanz optimal aufgehoben sei. Woher rührt eine solche Wahrscheinlichkeitsaussage und was bedeutet überhaupt „CC“?

Das Genom eines Vollblüters, d.h. die Gesamtheit seiner vererbbaren Anlagen, ist seit 2009 komplett kartiert. Bei einer solchen Kartierung wird die Abfolge der Bausteine der Vollblüter-Erbinformation auf den einzelnen Chromosomen beschrieben. Bei Vollblütern gibt es 32 Chromosomenpaare (der Mensch kommt mit 23 Chromosomenpaaren aus), für die solche genetischen Landkarten zu erstellen waren. Rund 2,7 Milliarden Einzelbestandteile in Form von Nukleinbasenpaaren wurden dabei auf den 32 Chromosomen identifiziert. 

Doch sind solche Kartierungen nur ein erster Schritt zum Verständnis der Bedeutung der genetischen Information. Nicht nur der Laie, auch der Experte fühlt sich beim Anblick von Genkartierungen stets an Spionagefilme erinnert, in denen geheime Informationen in einem Buchstabensalat verschlüsselt übermittelt werden. Ohne Kenntnis des Verschlüsselungscodes ist der Inhalt der Botschaft nicht zu verstehen. Das genetische Alphabet für die verschlüsselte Weitergabe der Erbinformation besteht dabei nur aus den vier Buchstaben A, T, G und C, wobei diese Buchstaben für die vier verschiedenen Nukleinbasen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin stehen, die in der Erbinformation auftauchen können. Eine rund 540 Kilometer lange Aneinanderreihung von Pärchen dieser vier Buchstaben in vermeintlich wirrer Abfolge charakterisiert die Erbinformation eines Vollblüters. Um zu verstehen, was sie bedeutet, muss man den Entschlüsselungscode kennen. Anders als im Spionagefilm gibt es in diesem Fall jedoch niemanden, der heute diesen Code bereits hat und aus dem Buchstabensalat des genetischen Alphabets verwertbare Information über alle Eigenschaften des Vollblüters dekodieren kann. 

An vielen Stellen der Welt wird jedoch fieberhaft an der Entschlüsselung des genetischen Codes gearbeitet. Der dabei gängigste Ansatz sogenannter genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen, wobei man sich den Heuhaufen sehr groß und die Nadel sehr klein vorstellen muss, damit der Vergleich halbwegs passt. Bei GWAS-Analysen – beispielsweise zur Suche der genetischen Information, die einen Sprinter von einem Steher unterschiedet – werden zunächst die genetischen Daten einer Gruppe von Sprintern und einer Gruppe von Steher erhoben, um anschließend systematisch alle Stellen des Genoms nacheinander durchzugehen und zu analysieren, an welchen Stellen Unterschiede im genetischen Alphabet, d.h. Häufungen einer bestimmten Buchstabenkombination nur in einer der beiden Gruppen, existieren. GWAS-Analysen sind daher extrem aufwändig. Sie haben zudem das zusätzliche Problem, dass meist unklar ist, ob das Verhaltensmerkmal, für das man die Bedeutung der genetischen Information entschlüsseln will, durch ein Gen oder durch ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Gene bestimmt wird. Um es im Heuhaufen-Vergleich auszudrücken: Man weiß im Vorhinein nicht, wie viele Nadeln sich dort versteckt haben und ob man die Suche nach einer gefundenen Nadel einstellen kann. Erfahrungsgemäß werden vielfach Verhaltensmerkmale durch das Zusammenwirken mehrerer Gene determiniert, so dass die Information über einen genetischen Unterschied in einem einzelnen Gen nur die Spitze des Eisbergs darstellt und nicht das gesamte Bild enthüllt, wie das Verhaltensmerkmal von der Erbinformation beeinflusst wird.

Bei der Equinome-Testung von Galileo Golds Steherqualitäten handelt es sich um die Überprüfung eines einzelnen Genortes auf dem 18. Chromosom des Vollblüter-Genmos. Unabhängig voneinander hatten zwei Forschergruppen, eine in den USA auf der Basis von Daten nordamerikanischer Vollblüter und eine am University College Dublin auf der Basis von irischen und neuseeländischen Vollblütern, eine interessante Region auf dem 18. Chromosom entdeckt, die für die Bildung von Myostatin (MSTN) verantwortlich ist. In diesem MSTN-Gen fanden sich an mehreren Stellen deutliche Unterschiede zwischen den Vollblütern. Da die Regulation der Myostatin-Produktion bekanntermaßen im direkten Zusammenhang zum Muskelwachstum steht und bereits in anderen Spezies wie z.B. bei Schafen und Hunden der Rasse Whippet Mutationen im MSTN-Gen identifiziert wurden, die drastische Effekte auf das Muskelwachstum zeigten, erregte die Entdeckung der Unterschiede im MSTN-Gen sofort Aufmerksamkeit. 

Das irische Team um Dr. Emmeline Hill, einer dem Turf eng verbundenen Genetikerin (ihre Großmutter Charmian trug sich in zweifacher Hinsicht in die irischen Turf-Annalen ein: Sie ritt als erste Frau im Rennsattel gegen männliche Konkurrenten in offiziellen Galopprennen und war auch im Alter von 62 Jahren noch in Rennen der irischen National Hunt Saison erfolgreich bis ihr der Turf Club die Fortsetzung ihrer Jockeyaktivitäten untersagte, eine Entscheidung, über die sie sich in den Medien bitterlich beschwerte und als Zeichen des Chauvinismus der irischen Rennsportbehörde brandmarkte, was ihr den Spitznamen „Galopping Granny“ einbrachte), fokussierte sich ganz auf eine Stelle im MSTN-Gen, an der es unter Vollblütern drei Normvarianten der genetischen Ausstattung (sog. „Polymorphismen“) gibt. Entweder finden sich auf beiden Allelen – eins vom Vater und das andere von der Mutter vererbt – an dieser Stelle jeweils die Nukleinbasen Cytosin (der CC-Typ) bzw. Thymin (der TT-Typ) oder es ist hier zu einer Mischung der beiden Nukleinbasen gekommen (der CT-Typ). Alle drei Normvarianten waren unter Vollblütern aller Leistungsklassen vertreten, ein Zusammenhang zwischen den drei Typen und Leistungsindikatoren wie Gewinnsumme, Black Type Siege o.ä. war nicht zu erkennen. 

Bei einer detaillierten Analyse in der Subgruppe der Grand Prix Pferde zeigte sich jedoch ein auffälliges Muster bei den Renndistanzen, auf denen die Vertreter der drei Typen ihre Gruppe-Siege errungen hatten: Der CC-Typ gewann nahezu ausschließlich in Gruppe-Rennen bis zur Meilendistanz, der TT-Typ siegte vornehmlich in Gruppen-Rennen ab 2000m, während die Siegdistanzen von Vertretern des CT-Mischtyps breiter gestreut waren. Dieses Muster bestätigte sich in einer Replikationsstudie auf der Basis von Daten japanischer Vollblüter. Auch in einer weiteren, quantitativ allerdings kleinen Replikationsstudie an Vollblütern, die alle am irischen Quartier von Jim Bolger trainiert wurden, konnte der Zusammenhang zwischen der Distanzpräferenz und der genetischen Information an dieser Stelle des MSTN-Genes bestätigt werden.

Alle Details der Studien und ihrer Resultate sind von Dr. Hill und ihren Kollegen in zahlreichen Publikationen in hochkarätigen Wissenschaftsjournalen veröffentlicht worden. Auch eine kritische Überprüfung der vorgelegten Ergebnisse fördert nach Expertenmeinung keine Unzulänglichkeiten oder Mängel im methodischen Vorgehen zu Tage. Der einzige Einwand, der uns mitgeteilt wurde, bezieht sich auf die bislang noch recht schmale Datenbasis, die bei den Analysen von Hill und Kollegen zugrunde lag. Auch wenn insgesamt die genetische Information von mehreren Tausend Vollblütern in etlichen Ländern (die größte Gruppe mit knapp 4000 Vollblütern stammt dabei aus einer japanischen Datenbank) analysiert wurde, basiert die Aussage zur Abhängigkeit der Distanzpräferenz vom CC/CT/TT-Typ nur auf einer Subgruppenanalyse von weit kleineren Populationen. Auch wenn die mehrfache Bestätigung des Befundes in unabhängigen Populationen von Vollblütern die Glaubwürdigkeit der Aussage deutlich erhöht, so ist eine präzise Vorhersage, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Vollblüter des CC-Typs über Derby-Distanz in einem Gruppe-Rennen siegreich sein kann oder ein Vertreter des TT-Typs über Sprintdistanzen auf höchstem sportlichen Level punkten kann, nicht seriös zu treffen. Dazu wären weit größere Kollektive notwendig, um die Ungenauigkeit jeder auf der heutigen Datenbasis möglichen Aussage so weit zu reduzieren, dass eine solche Wahrscheinlichkeitsaussage überhaupt Sinn macht.

In der Quintessenz bedeutet dies für die schwierige Entscheidung, die Hugo Palmer und das Al Shaqab-Umfeld bis zum Derby am 4. Juni 2016 zu treffen hat: Galileo Gold dürfte auf Distanzen bis zur Meile wesentlich besser aufgehoben sein als auf der Derby-Distanz. Wie unwahrscheinlich es ist, dass er das notwendige Stehvermögen für die zusätzlichen 800m bis zum Zielpfosten der Derby-Distanz einmalig besitzt, kann auch durch das Resultat der genetischen Testung nicht präzise vorhergesagt werden. Wenn man bedenkt, wie viele Millionen jedes Wochenende ihren Lottoschein ausfüllen, so zeigt dies allerdings, dass für viele Menschen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen nicht die Richtschnur für ihr Handeln darstellen. Es ist mit Sicherheit wahrscheinlicher, dass Galileo Gold das notwendige Stehvermögen trotz CC-Typ besitzt als dass der am Derby-Wochenende abgegebene Lottoschein uns zum Millionär macht.

Verwandte Artikel: