TurfTimes:
Ausgabe 563 vom Freitag, 12.04.2019
Warnung: Lesen Sie diese Zeilen nicht, wenn Sie unter einer Unverträglichkeit überschwänglicher Emotionen leiden, und/oder der Meinung sind, dass Emotionen niemals in den Weg grauer Theorie oder starrer Statistiken geraten sollten. Das Lesen dieser Zeilen kann eine lebenslange Faszination mit der Rennbahn Aintree und besonders einem Pferd namens Tiger Roll hervorrufen.
Das Warten hat ein Ende. Fünfundvierzig Jahre, nachdem ein gewisser Red Rum den zweiten seiner insgesamt drei Siege im Grand National errang, schaffte erneut ein Pferd das kaum für möglich gehaltene: am 06.04.19, um ziemlich genau 17:28 Ortszeit (wo waren Sie als es geschah?), galoppierte ein kleiner Wallach namens Tiger Roll – die Augen hinter den Plastikschalen seiner Scheuklappen verborgen, die Ohren gen der tobenden Menge gedreht, die Nüstern rosa-groß maximal gebläht – in die Unsterblichkeit. Genau 9 Minuten und eine Sekunde, nachdem der Starter beim zweiten Versuch die vierzig Starter auf ihre 6907m lange Reise geschickt hatte, überquerte der Authorized-Sohn Längen vor seinen Gegnern die Ziellinie, „Tiger Roll is remarkable… Tiger Roll joins the Greats“ ruft der Kommentator aus; nicht, dass man zwischen lärmenden, jubelnden Menschen - mit 70.000 zahlenden Zuschauern ist die Rennbahn ausverkauft - sein eigenes Wort verstehen würde. Doch der Moment, dieser große Moment, geht hier nicht verloren. Wildfremde Menschen strahlen sich an, verloren Wetten werden unwichtig, hier wurde Geschichte geschrieben.
„Dieses Pferd und dieser Ort sind so einmalig. Liverpool und Aintree sind so weit vor allen anderen [Rennbahnen; bezogen auf die Atmosphäre]. Die Menge ist laut, und fröhlich, aber niemals aggressiv. Sie sollten so stolz sein auf das, was sie hier haben. Ich bin stolz, ein Teil zu sein. Ich habe mich schon im letzten Jahr in den Ort verliebt, dieses Mal ist es noch besser.“ So ein atemloser Davy Russell, der Tiger Roll nach 2018 erneut zum Sieg steuerte; er hat einen Punkt. Mag sich auch die Presse - regional, überregional, national und international - mit einer gewissen Häme auf Liverpools „Finest“ stürzen – die Outfits der Damen am Lady´s Day und Grand National-Tag muss man gesehen haben, um sie zu glauben – und mag den Rennbahnbesuchern auch der ganz große Pferdeverstand fehlen: die Menge hat Herz, die Menge kann feiern, jedes Kind der Umgebung kennt Red Rum und weiß, was eine Leistung „seit Red Rum“ wert ist.
„Wir haben ihn nicht gewettet, keinen Cent, und wir waren noch nie so froh, zu verlieren“, strahlt mich eine junge, in auffälligem Mini-Kleid und vollem Make-Up hervorragend herausgebrachte Frau an; und habe ich ob der schrillen Outfits je leise Bedenken gehabt, dass die übermenschlichen Leistungen von Pferd und Jockey wohlmöglich an einen trunkenen Mob verschwendet sind, so belehrt sie mich zugleich und für immer eines Besseren: „ Wir haben Geschichte gesehen, Love“, ihr nicht minder schick gekleideter Begleiter nickt enthusiastisch und betont: „ Wir haben nichts gewonnen, es ist fabelhaft.“ Fabelhaft, tatsächlich. Und unmöglich, sich der Faszination dieses kleinen Wallachs zu entziehen, der die ersten Jubelrufe bereits beim Betreten des Pre-Paraderings erhielt. Lange Minuten nach allen anderen Pferden erscheinen die elf (!) Starter von Trainer Gordon Elliott (davon sieben für Tiger Roll-Besitzer Gigginstown House Stud, der insgesamt selber acht Pferde ins Rennen schickte) unter dem Raunen der kundigen Zuschauer, die sich am Vor-Führring eingefunden haben, endlich auf der Bühne; ziehen hier jenseits des ganz großen Lärms ihre Runden. Tiger Roll führt die Gruppe an, wer sonst. Der Wallach, dessen Widerrist kaum die Rails überragt, mag klein in Statur sein, aber er hat das Herz eines Löwen und die Ausstrahlung eines Brad Pitt. „Er ist ein Gentleman, aber er genießt die Aufmerksamkeit“ umschreibt Elliott später seinen Schützling, der im Verlauf der rund zwanzig minütigen Pressekonferenz von „a bit special“ über „very special“ zum „horse of a lifetime (Pferd meines Lebens)“ wird. „Er liebt das gute Leben, essen, trinken, schlafen, wie ich.“
„Er ist so intelligent“ bekennt auch Jockey Davy Russell, und ist sich sicher, „er kennt sogar seinen Namen. Der Kommentar hat bei der Parade seinen Namen gesagt, und er wurde gleich ganz lebendig. Er ist unglaublich intelligent.“ Diese Intelligenz zeichnete den Wallach auch im Rennen aus: “Er weiß genau, wie hoch er springen muss, und kann zwischen Hürden und Jagdsprüngen unterscheiden“ erklärt Keith Donoghue, jenseits des Grand National zuletzt ständiger Reiter des Wallachs. Davy Russell beschrieb es nach dem Rennen so: „Er wischt durch die Hürden und springt nie höher, als er muss. Ich habe manchmal gedacht: Jesus, du sollest deine kleinen Beine ein wenig höher nehmen.“
Die Statistik wird notieren, dass Tiger Roll am 25. und 26. Sprung beim Landen stolperte, tatsächlich verschleiern diese Fehler nur, wie überlegen der Wallach zu jeder Phase des Rennens war. Immer am Gebiss, den kleinen Kopf ernsthaft gesenkt, ging der Wallach mitten im Pulk das Monsterrennen an, „jedes Mal, wenn ich Davy sah, war er damit beschäftigt, sein Pferd zurück zu halten“, so ein verblüffter Ruby Walsh, der auf Rathvinden lange das Tempo bestimmte und schlussendlich hervorragender Dritter wurde. Zwischen ihm und Tiger Roll hielt sich lange und ehrenhaft die riesengroße Außenseiterin Magic of Light, eine der seltenen Stuten im Rennen.
Die Flemensfirth-Tochter, zuletzt in Cheltenham auf Gruppe 3-Ebene unplatziert und als 66-1 Chance am Toto sträflich unterschätzt, war unglaublicher Weise der überhaupt erste Grand National- Starter für Trainerin Jessica Harrington, mit 71 Jahren die älteste aller teilnehmenden Trainer. Auch für Jockey Paddy Kennedy, Bruder des jüngsten irischen Star-Jockeys Jack, war es der allererste Ritt im Grand National; die Stute lief das Rennen ihres Lebens, auch wenn ein schwerer Fehler am letzten Sprung ihr jedoch alle Siegchancen nahm. Doch welche Aussichten hätte sie wirklich gegen Tiger Roll gehabt, der seine Form in diesem Jahr zu neuen Höhen geschraubt hat und in der aktuellen Saison bei nun drei Starts tatsächlich ungeschlagen ist? Seinen überwältigenden Sieg beim Cheltenham Festival haben wir seinerzeit ausgiebig beleuchtet; als zweifacher Grand National Sieger spielt der Wallach aber nun in einer ganz anderen Liga, die der Unsterblichen. „Er ist eine Legende. In einem Atemzug mit Red Rum. Es ist unglaublich.“ So Michael O´Leary, der den Sieg als eine „out -of-body“-Erfahrung beschrieb. „Dies ist das Rennen, das jeder in Irland gewinnen will. Vergesst all die Gold Cups und Champion Hurdles, es ist das Grand National. Ich hatte meine erste Wette im Grand National, ohne dass meine Mutter es wusste.“
Es ist eines der Markenzeichen der Rennbahn von Aintree, dass sie nicht stillsteht. „Im Grand National ist kein Hindernis mehr, wie es original einmal war.“ Erläutert John Pinfold, Autor mehrerer Standardwerke über Bahn und das Rennen. Einschneidende Veränderungen, vor allem am berüchtigten Becher´s Brook, wurden auf Druck der Öffentlichkeit vor allem in den letzten Jahren vorgenommen. Hindernisse verkleinert, Landeseiten angehoben; seitliche Verkürzungen ermöglichen reiterlosen Pferden ein einfaches Umlaufen der Hecken. Etwas ganz Besonderes auch der Abkühl-Bereich mit großen Turbinen, die die erhitzten Pferdeleiber nach den aufreibenden Meilen wieder herunterkühlen; am vergangenen Samstag (erneut) ein Segen, nachdem die Temperaturen am letzten Meetingtag kräftig angezogen hatten.
Leider konnte all dies nicht verhindern, dass mit Willie Mullins´ Schützling Up for Review, der durch ein anderes Pferd direkt am ersten Hindernis mit tödlichen Folgen zu Fall kam, zum ersten Mal seit 2012 wieder ein Pferd im Rennen starb. Auf der zweiten Runde musste dieses Hindernis ausgelassen werden, eine Meisterleistung der Jockeys; nach der ersten Runde waren noch eine große Anzahl von Startern im Rennen, und es galt, einen schmalen neuralgischen Punkt zu navigieren. Insgesamt kamen schlussendlich 19 Pferde ins Ziel, von der Elliott-Armada im Übrigen vier. Nach der Vielzahl der Stürze beim Cheltenham-Festival schlugen die Jockeys in Aintree einen ruhigeren Takt an; vielen Pferden, die angehalten wurden, standen somit eine geringe Zahl von Stürzen gegenüber; nicht verschweigen darf man, dass insgesamt drei Pferde ihr Leben ließen.
Ein Rest-Risiko wird immer bleiben, wie im Leben allgemein. Es gilt, auch der breiten Öffentlichkeit den Unterscheid zwischen Vernachlässigung und einer sportlichen Tragödie klar zu machen. Ein Tiger Roll ist das Objekt unserer Bewunderung, eben weil er ein Aktiver des Sports ist. Gezwungenermaßen, werden die Gegner des Pferdesports anführen; strenggenommen ist es aber eben die Daseinsberechtigung eines jeden Pferdes, welches ohne Militär und Landwirtschaft dringend einen neuen „Zweck“ benötigte, um nicht als „Nutzvieh“ neben Kühen und Schafen zu landen. Dem kann man kritisch gegenüberstehen; Leistung schadet aber auch uns Menschen nicht.
Tiger Roll ist unser Red Rum. Dessen Rekord in diesem Rennen – drei Siege und zwei zweite Plätze bei fünf Starts, bei seinem letzten Sieg im Jahr 1977 war er 12 Jahre – scheint erst einmal sicher. „Ich würde sagen, es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir im nächsten Jahr wiederkommen. Er [Tiger Roll] ist nun an einem Punkt, wo ich mich kümmern möchte und ernsthaft um ihn sorge“, so O´Leary. „Er ist nur klein, eine kleine Ratte („a little rat of a thing“), und ich möchte nicht, dass er 12 Stone über die Bahn schleppen muss. Im Geschäftlichen kann man gierig sein, aber nicht im Sport.“ Eine Kampfansage an den Handicapper, oder eine ernste Absage? Die Zeit wird es zeigen, der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann. Vergleiche mit Red Rum wischten Besitzer und Trainer sowieso direkt vom Tisch:“ Er hat zweimal hier gewonnen und vier Mal in Cheltenham. Das ist in meinen Augen eine Legende.“
Catrin Nack