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Der kleine freche Löwe - die Geschichte von Stradivarius

Die Queen, Frankie Dettori und der Ascot Gold Cup 2019. www.galoppfoto.de

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Turf aktuell

TurfTimes: 

Ausgabe 582 vom Freitag, 23.08.2019

Der Colwick Park im mittelenglischen Nottingham ist normalerweise keine Galopprennbahn, die eine Bühne für die großen Cracks darstellt. Große sportliche Höhepunkte sind hier Mangelware, Basissport steht im Mittelpunkt. Auch am 5. Oktober 2016, einem Mittwoch, war dies nicht anders. Doch im Maidenrennen für den jüngsten Jahrgang debütierte an diesem Nachmittag in Nottingham ein Hengst, der später für mehr als eine Schlagzeile sorgen sollte. Mit Robert Havlin im Sattel hinterließ er dabei allerdings keinen nachhaltigen Eindruck. Die Siegeventualquote von 3:1 im neunköpfigen Feld deutete schon auf einigen Kredit hin, den der junge Hengst beim wettenden Publikum genoss. Doch dürften diese Vorschusslorbeeren eher dem Stall als dem Pferd gegolten haben. Wenn John Gosden einen zweijährigen Debütanten nach Nottingham schickt, notiert er nie als langer Außenseiter am Totalisator. Das Erscheinungsbild des Hengstes war dagegen wenig imposant: ein kleiner Fuchshengst mit vier weißen Fesseln. Nur ein 5. Rang, viereinhalb Längen hinter dem Sieger, sprang für ihn in Nottingham heraus.

Über den Sieger dieses Maidenrennens Contrapposto spricht heute kein Mensch mehr, er gewann nach dem Maidenerfolg bislang keine weiteren Rennen, wechselte in diesem Winter zur irischen Besitzertrainerin Annemarie O'Shea, die auf ihrem Hof bei Stoneyford im Kilkenny ein paar Vollblüter trainiert und seit mehr als drei Jahren auf einen Sieg wartet. Der Fünftplatzierte des Rennens erwies sich jedoch später als der uneingeschränkte Marathon-König der britischen Inseln. Bis dahin dauerte es jedoch noch eine Weile. Auch der zweite Start, diesmal in Newmarket mit Gosdens Stalljockey Frankie Dettori im Sattel, endete nicht siegreich. Dettori hatte sich in Newmarket für den falschen Gosden-Schützling entschieden, der Stallgefährte Cracksman gewann hier bei seinem Lebensdebüt, Dettori musste sich mit Rang 4 begnügen. Erst nach dem dritten Start, diesmal in Newcastle auf Tapeta-Untergrund, konnte man den Namen Stradivarius in eine Siegerliste eintragen. Seine Maidenschaft legte der als Favorit angetretene Sea the Stars-Sohn unter Robert Havlin zudem wenig spektakulär ab, ein Kampfsieg mit dem knappen Vorteil eines Kopfes ließ wohl niemanden am Ende der Zweijährigen-Kampagne ahnen, dass hier ein Crack heranreifte.

Zu Beginn seiner Derby-Saison lief Stradivarius zunächst auf Handicap-Parkett. Ein Sieg in einem Class 4 Handicap in Beverly und ein 2. Platz in einem Class 3 Handicap in Chester waren die initiale Ausbeute, bevor sich John Gosden entschloss, mit Stradivarius auf längeren Distanzen höhere sportliche Ziele anzupeilen. Bei der Royal Ascot Woche im Juni 2017 trug diese Entscheidung sofort Früchte. Der erste Auftritt auf Gruppe-Ebene in der über 2800m führenden Queen’s Vase (Gr. II) für den Derby-Jahrgang endete gleich mit einem vollen Erfolg in einem - wie man später feststellen sollte - für ihn typischen Stil: Kampf bis zur Linie.

Beim Goodwood Meeting suchte Stradivarius dann die nächste sportliche Herausforderung, ein erster Start auf höchstem Level im über 3200m führenden Goodwood Cup (Gr. I) als Dreijähriger gegen die älteren Extremsteher. Auch diese Herausforderung meisterte er. Wie in Ascot hatte er Andrea Atzeni im Sattel, der mit ihm den favorisierten Titelverteidiger Big Orange in die Knie zwang. Pikanterweise saß Frankie Dettori im Sattel des unterlegenen Big Orange, da er das extrem niedrige Gewicht, mit dem Stradivarius zu diesem Zeitpunkt der Saison gegen die älteren Jahrgänge antreten konnte, nicht bringen konnte.

Anschließend probierte es Gosden mit seinem neuen Extremsteher-Star im klassischen St. Leger (Gr. I) in Doncaster. In einer der bestbesetzten St. Leger-Auflagen dieses Jahrhunderts reichte es für den diesmal von James Doyle gerittenen Stradivarius zu einem 3. Platz hinter dem irischen Derby-Sieger Capri und dem Stoute-Schützling Crystal Ocean, der aktuell die Pole Position der Turf-Weltrangliste einnimmt. Auch seinen letzten Saisonstart als Dreijähriger im British Champions Long Distance Cup (Gr. II) in Ascot beendete er als Dritter hinter dem klar favorisierten Order of St. George und Torcedor. Gleichzeitig markierte diese Platzierung am 21. Oktober 2017 seine letzte Niederlage auf der Rennbahn.

Die nunmehr über fast zwei Rennzeiten und acht Rennen währende Siegesserie begann mit dem Saisondebüt 2018 im Yorkshire Cup (Gr. II), den er mit Frankie Dettori im Sattel für seine Verhältnisse ungewöhnlich deutlich mit drei Längen Vorsprung gewann. Der nächste Auftritt im Ascot Gold Cup (Gr. I), in dem er unter Frankie Dettori den französischen Aga Khan-Extremstehercrack Vazirabad, Torcedor und Order of St. George in einem dramatischen Kampf bezwang, katapultierte ihn endgültig in den Marathon-Olymp.

Bei der erfolgreichen Titelverteidigung im folgenden Goodwood Cup (Gr. I) musste er auf Dettori verzichten, da dieser aufgrund einer Handverletzung ausfiel, doch auch mit Andrea Atzeni im Sattel hielt die Siegesserie. Er ging erstmals in einem Gruppe-Rennen als Favorit an den Start und bestätigte diese Einschätzung, erneut vor Torcedor und dem auf Extremsteherdistanz gewechselten mehrfachen Gruppe-Sieger Idaho.

Nur dreieinhalb Wochen nach dem Triumph in Goodwood trat er erneut, diesmal mit dem wieder genesenen Dettori im Sattel, bei einem der großen englischen Sommer-Meetings an. Es ging für ihn ins nordenglische York, wo er beim Ebor-Meeting auf Gruppe II Ebene im Lonsdale Cup an den Ablauf kam. Diese Prüfung gehört eigentlich nicht zu den besonders im Blickpunkt stehenden traditionellen Cup-Rennen des britischen Turfs. Ursprünglich als Lonsdale Stakes gelaufen hatte es viele Jahre nur Listenstatus und wurde 1998 erstmals als Gruppe-Rennen der untersten Kategorie ausgetragen. Im Jahr 2004 erfolgte die Hochstufung auf Gruppe II-Ebene und die Umbenennung zum Lonsdale Cup. Die zeitliche Platzierung zwischen dem Goodwood-Cup Ende Juli und dem Doncaster-Cup beim St. Leger-Meeting Mitte September ist für die Extremsteher schon eine besondere Herausforderung, wenn sie nicht nur in York, sondern auch in einem (oder gar beiden) der beiden traditionsreicheren Cup-Rennen an den Start gehen.

Für Stradivarius war ein Start im Lonsdale Cup jedoch geradezu Pflicht, winkte doch im Siegfall ein Bonus von einer Million Pfund, der als „Weatherbys Hamilton Stayers' Million“ im Jahr 2018 erstmals für denjenigen Extremsteher ausgelobt worden war, der sich in einem Jahr Yorkshire Cup, Ascot Gold Cup, Goodwood Cup und Lonsdale Cup an seine Fahnen heftet. Bei der Ankündigung dieser speziellen Zusatzdotierung für einen Seriensieger in den vier Cup-Rennen hatten noch etliche Kommentatoren dies als Marketinggag bezeichnet, da sie es für nahezu ausgeschlossen hielten, dass einem Vollblüter eine solche Siegesserie gelänge. In der Geschichte dieser vier Prüfungen gab es keinen Präzedenzfall, niemand hatte diese Cup-Rennen in einem Jahr gewonnen, doch nun griff gleich im ersten Jahr ein „Turf-Nurmi“ nach der Million. Die Siegeventualquote von 1,36:1, mit der Stradivarius an den Ablauf kam, spiegelt das grenzenlose Vertrauen der Wetter wider, dass ihm die Million nicht zu nehmen sein würde, da die Konkurrenz in den Rennen zuvor deutlich stärker war. Letztlich bestätigte er die Einschätzung, auch wenn er nicht die kämpferische Frische der vorherigen Rennen an den Tag legte. Ein Arbeitssieg vor Count Octave, der bereits zum vierten Mal den Jahrgangsgefährten vor sich dulden musste, und dem wie im Goodwood-Cup auf Rang 3 endenden Idaho sicherte Stradivarius den Millionenbonus.

Nach dem Ebor-Meeting erhielt der frischgebackene Millionär eine zweimonatige Pause. Zum Saisonabschluss lief er noch einmal in Ascot im British Champions Long Distance Cup (Gr. II), dem Rennen, in dem er im Vorjahr seine letzte Niederlage hatte einstecken müssen. Beim zweiten Versuch als Vierjähriger gelang ihm nun ein sicherer Sieg, so dass er das Jahr 2018 mit fünf Siegen bei ebenso vielen Starts beendete. Sein Jahresrating von 120 (entspricht einer Marke von 100kg im deutschen GAG) bescherte ihm einen Platz in den Top 50 der internationalen Weltrangliste des Turfs. Sein Vorjahresrating von 118 als Dreijähriger hatte er noch einmal deutlich gesteigert.

Im Jahr 2019 scheint sich Stradivarius in einer Zeitschleife zu befinden. Bislang verläuft alles nahezu identisch zum Vorjahr. Der einzige Unterschied besteht darin, dass er nun stets als heißer Favorit ins Rennen geht, was in den ersten Rennen des Vorjahres noch nicht der Fall war. Einem Erfolg im Yorkshire Cup (Gr. II) Mitte Mai folgte der Triumph im Ascot Gold Cup (Gr. I) Mitte Juni, dem sich ein erneuter Sieg im Goodwood Cup (Gr. I) Ende Juli anschloss. Stets war Frankie Dettori der Siegreiter, stets war der Vorsprung im Ziel überschaubar. Die Gegner waren andere als im Vorjahr, doch der Sieger hieß immer Stradivarius. Als erstem Vollblüter in der Geschichte des seit 1808 ausgetragenen Goodwood-Cups glückte ihm ein echter Hattrick in dieser Prüfung, drei Siege in drei aufeinanderfolgenden Jahren. Double Trigger, der einzige andere Dreifachsieger des Goodwood-Cups, hatte das Rennen als Vier-, Fünf- und Siebenjähriger gewonnen, als Sechsjähriger musste er aufgrund einer Hufverletzung auf einen Start verzichten.

Damit hat Stradivarius auch in diesem Jahr die Chance auf den Gewinn des Millionenbonus. Die Neuauflage der „Weatherbys Hamilton Stayers’ Million“ findet auch in 2019 mit dem diesmal nur von fünf Langstreckenspezialisten bestrittenen Lonsdale Cup beim laufenden Ebor-Meeting in York ihren Schlusspunkt. Stradivarius wirkt aufgrund der Siegesserie offenbar mittlerweile abschreckend auf die Konkurrenz, so wenige Gegner stellten sich ihm noch nie in den Weg. Mit dabei ist allerdings sein Dauerrivale in dieser Saison, der von Mark Johnston trainierte Dee Ex Bee (Silvestre de Sousa), der am Ende der letzten Saison auch einmal in Deutschland im Großen Preis von Bayern (Gr. I) antrat und dort als Dritter zu Iquitos endete.

Ein neuer und weitgehend unbekannter Konkurrent ist der von Dermot Weld für das Moyglare Stud betreute Falcon Eight (Oisin Murphy), der seinen erst sechsten Karrierestart absolvieren wird und mit einem frischen Erfolg über die Zwei-Meilen-Distanz in einem Listenrennen an den Ablauf kommt. Mit dem Dreijährigen Il Paradiso (Wayne Lordan) bietet Aidan O'Brien diesmal nur einen Starter in klarer Außenseiterrolle auf. Bislang ausschließlich in einem Maidenrennen (beim 4. Versuch) und einem kleinen Handicap siegreich, müsste der Galileo-Sohn schon eine Leistungsexplosion an den Tag legen, um bei seinem zweiten Auftritt auf Gruppe-Parkett - bei seinem ersten Auftritt war er als Pacemaker im irischen Derby vor zwei Monaten im Einsatz - beim Kampf um den Sieg mitmischen zu können. Ebenfalls als klarer Außenseiter geht der siebenjährige Magic Circle (Jim Crowley) aus dem Quartier von Ian Williams ins Rennen, der schon lange auf Cup-Distanzen unterwegs ist, dabei jedoch in den großen Prüfungen nicht über eine Statistenrolle hinauskam.

Stradivarius ist laut Auskunft von John Gosden fit und zeigt sich im Training „frech wie immer“, so dass er an diesem Freitag versuchen wird, durch einen weiteren Erfolg, den dann 13. Sieg seiner Karriere, eine zweite Zusatzmillion für das Konto seines 62jährigen Besitzers Björn Nielsen zu verdienen. Frankie Dettori wird sich auch diesmal in seinen Sattel schwingen, wie bei elf seiner 18 Starts. Er beschrieb ihn als „wunderbaren kleinen Kerl mit dem Herz eines Löwen“. Man müsse ihm im Rennen nur die Chance geben, vor dem Ziel in einen Kampf um den Sieg verwickelt zu sein, dann würde man mit ihm gewinnen. Verwundbar ist der Marathon-König nur dann, wenn er überrascht wird oder den Kampf zu früh für gewonnen erachtet. Zuletzt im Goodwood-Cup konnte man beobachten, was passiert, wenn Stradivarius das Signal von seinem Jockey bekommt, dass der Sieg in trockenen Tüchern sei. Frankie Dettori zeigte sich schon deutlich vor dem Zielstrich dem Publikum in Jubelpose, woraufhin sein Partner sofort abbremste. Manchem Zuschauer stockte der Atem, denn Konkurrent Dee Ex Bee, der schon im vorherigen Ascot Gold Cup der Unterlegene gewesen war, kam dadurch noch gefährlich nahe, so dass ihm am Ende nur eine Halslänge zum Sieg fehlte. Dettori wies nach dem Rennen Kritik, er hätte leichtfertig den Sieg riskiert, zurück: „Ich habe vielleicht zehn Meter zu früh gejubelt, doch ich wusste genau, dass ich gewonnen habe und wo der Zielstrich ist.“

Unabhängig davon, ob ihm nun der Coup, einen zweiten Millionen-Bonus einzuheimsen, gelingen wird oder nicht, gehört Stradivarius zu den Ausnahmegaloppern unter den Cup-Spezialisten, der noch so manchen Rekord aufstellen kann. Der erst Fünfjährige aus der Zucht seines Besitzers Björn Nielsen, der bereits ankündigte, dass er auch im nächsten Jahr im Rennstall bleiben wird, vertritt eine in Deutschland bestens bekannte Familie. Er ist ein Bruder zu dem einst in Ullmann-Farben gelaufenen Persian Storm (Monsun), Sieger im Fürstenberg-Rennen (Gr. III) und im Bavarian Classic (Gr. III) sowie zu den listenplatziert gelaufenen Magical Eve (Oratorio) und Rembrandt Van Rijn (Peintre Celebre). Die Mutter Private Life, zweimal Dritte in Listenrennen in Frankreich, ist eine Schwester zu Parisienne (Distant Relative), zweite Mutter des Melbourne Cup (Gr. I)-Siegers und Deckhengstes Protectionist (Monsun). Es handelt sich um eine alte und höchst erfolgreiche Wildenstein-Familie, der auch Persian King (Kingman) angehört, diesjähriger Sieger in der Poule d’Essai des Poulains (Gr. I). Als Jährling war Stradivarius bei Tattersalls im Ring, das Höchstgebot von 330.000gns reichte Nielsen nicht, der kleine Hengst verließ den Ring unverkauft, worüber Nielsen heute nicht traurig sein wird.

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